Andererseits geht es beim Erzählen längst nicht mehr nur ums Schreiben. Das Beziehungsdreieck Sender, Empfänger und Botschaft hat sich um die Frage nach dem richtigen Kanal bzw. den richtigen Kanälen erweitert. Deshalb betrachten wir heute jede Geschichte zunächst wie durch ein Prisma, erzählen sie auf jedem Kanal ein klein wenig anders, um optimale Passung zu erzeugen – wobei die Botschaft stets dieselbe bleibt und zum bestmöglichen Zeitpunkt gesendet wird. Es ist ein Konzert, in dem die Schreibmaschine längst nicht mehr den Takt vorgibt.
Zudem gilt, vielleicht mehr denn je: Wer schreibt, der bleibt. Digital vergisst niemals. Deshalb ist es so wichtig, dass die Geschichten auf einem tragfähigen Wertefundament gründen. Denn nur dadurch sind sie beständig und wahrhaftig und vor allem Shitstorm-sicher.
Karin Thier: Gutes Storytelling hängt auch immer davon ab, wer mit welcher Intention diese Frage stellt. Für Menschen, die eine Geschichte hören, ist sie ganz einfach dann gut, wenn sie ihnen gefällt. Und das tut sie in der Regel, wenn sie sich emotional berührt fühlen und mit dem Inhalt in Resonanz treten können. Für Unternehmen kann gutes Storytelling hingegen eine erfolgreiche narrative Marketingkampagne bedeuten, die ihre Umsatzziele erfüllt oder Mitarbeitende von einem Change-Prozess überzeugt hat.
Wenn Sie mir als narrative Beratende diese Frage stellen, so ist gutes Storytelling für mich dann gegeben, wenn Geschichten es schaffen, beide Perspektiven zu berücksichtigen: den Zuhörenden einen Mehrwert bieten und darüber hinaus auf authentischen Elementen fußen.
Frau Thier, und warum liegt darin viel Potenzial, aber auch Gefahr?
Karin Thier: Das Potenzial von Storytelling liegt auf der Hand. Geschichten funktionieren bei uns Menschen einfach gut. Wir sind von Natur aus „Storytelling Animals“. Das, was wir als unsere soziale Identität und Wirklichkeit bezeichnen, konstruieren wir in Form von Geschichten. Kein Wunder, dass versucht wird, Storytelling so vielseitig einzusetzen.
Eine Gefahr sehe ich im undurchdachten, schnell umgesetzten Storytelling, welches schön anzuschauende Geschichten produziert, die aber nicht die erhoffte Wirkung erzielen. So verpufft Storytelling zur vorher beschriebenen Worthülse. Eine andere Gefahr sehe ich in der manipulativen Wirkung von Storytelling. Denn im Deckmantel von Geschichten lassen sich nicht nur Produkte verkaufen, sondern eben auch Meinungen erzeugen und verbreiten.
Sie sprechen im Pharma-Kontext von narrativer Medizin – was ist damit gemeint?
Karin Thier: Darunter ist ein Ansatz in der Medizin zu verstehen, der sich mit der Bedeutung von Erzählungen und Geschichten von Patientinnen und Patienten befasst. Geschichten spielten schon immer eine wichtige Rolle in der Medizin. Sie geben Erfahrungen mit Krankheit, Gesundheit und Heilung wieder und enthalten Schilderungen über Verhaltensweisen, Bewältigungsstrategien oder Entscheidungsprozesse von Betroffenen. Dies unterstützt die Reflexion im eigenen Umgang mit Gesundheit und hilft dabei, diesen besser zu verstehen. In der von objektiven, wissenschaftlichen Berichten geprägten Medizin wurden solche Geschichten lange unterdrückt. Erst in jüngerer Zeit wächst das Verständnis, sie umfangreicher und gezielt als nützliche Ressource zu verstehen.
Diese Art von Narration ist auch für die Pharma- bzw. Selbstmedikationsindustrie interessant. In Geschichten von Patientinnen und Patienten bzw. Kundinnen und Kunden steckt ein bislang kaum genutztes Reservoir an „Stoff“ für authentische Erfahrungsgeschichten, die sich vielseitig und sinnvoll verwenden lassen. Dafür bedarf es allerdings der oben bereits erwähnten Kunst des Storylistenings und generell einer neuen Art von Aufmerksamkeit und Gespür für die Kundinnen und Kunden.
Uwe, du verantwortest als Multi-Chefredakteur unter anderem den Titel Good Health sowie die Plattform PraxisVITA. Warum ist gerade bei Gesundheitsthemen gutes Storytelling notwendig? Wie gelingt es uns, die Leserinnen und Leser abzuholen und zu begeistern?
Uwe Bokelmann: Gute Geschichten spannend zu erzählen, ist überall wichtig. Im Gesundheitsbereich aber haben gute Geschichten eine erheblich größere Tragweite, weil sie unser Leben im besten Fall nachhaltig positiv beeinflussen. Ob in der Reportage das Café am Ende der Welt beispielsweise ein paar Meter weiter links oder rechts steht, ist für die Leserinnen und Leser kaum von Bedeutung. Die fantastischen Vier sollte dagegen jeder kennen, der gelegentlich unter Atemnot leidet. Und ich meine da jetzt nicht Smudo und Kollegen. Sondern? Die vier Präparate, die bei einer Herzschwäche das Leben deutlich verbessern und sogar retten können. Das sind: ACE-Hemmer, Betablocker, Mineralkortikoidrezeptor-Antagonisten und SGLT2-Hemmer. Komplizierte Begriffe, die sich sehr viele Menschen weder merken können noch merken wollen. Deshalb verpacken wir sie emotional und spannend und erhöhen dadurch zunächst die Lesebereitschaft und – sozusagen als Nebenwirkung – die Gesundheitskompetenz. (siehe Beispiele)